Ich habe eine Gruppe 20 Jährige gefragt warum sie nicht auf die Straße gegangen sind.

Eugen A. Tagpfau, Donnerstag, 22.09.2022, 10:36 (vor 747 Tagen) @ helmut-13880 Views

Wir standen in lockerer Runde beienander und es kam zum Thema Coronamaßnahmen und Einschränkungen. Einer der Jungen hatte sein erstes Studienjahr absolviert ohne die Uni betreten zu haben. Es ging so eine halbe Stunde darum was sie alles nicht tun konnten. Zusammentreffen, Party, Urlaub oder eben Uni, und für die Jungen auch wichtig, bisserl Geld mit Nebenjob.

Da hab ich gefragt warum sie denn nicht bei einer der Demos mitgegangen sind.
Die Antwort: Daran haben wir nicht gedacht.
Es kam ihnen schlichtweg nicht in den Sinn.


Ich zitiere hier mal Klonovsky der Sieferle zitiert:

"Das dionysische Individuum (gemeint ist der egozentrische Endverbraucher unseres Epöchleins – M.K.) hat Eigenschaften, die sich fundamental von denen seines Vorgängers, des liberal-bürgerlichen Individuums, unterscheiden. Es ist rebellisch, sinnlich und destruktiv. Es richtet seine Energien nicht auf die Modellierung und Formgebung einer individuellen Persönlichkeit oder eines ‚Charakters’, sondern es rechnet mit der Amorphität der Person. Es zerfließt an seinen Rändern, ist widerspruchsvoll, widerständig, immer auf der Suche nach Lust, Reiz, Sensation, auf der Flucht vor Bindung, Fremdbestimmung, Verpflichtung. Es ist nicht aktiv-gespannt, sondern strömend und schwingend. Es reflektiert nicht die Welt, sondern will in ihr aufgehen, mit dem Leben verschmelzen. Es ist musikalisch-rhythmisch – fühlt sich in musikerfüllten, von ihrem Takt strukturierten Räumen am wohlsten, die ihm das Gefühl vermitteln, in einem elementaren Fluß mitgetrieben zu werden.

Das liberale oder bürgerliche Individuum dagegen verstand sich selbst als eine organisch-geschlossene Struktur im Sinne einer 'Persönlichkeit', die um einen bestimmten Identitätskern zentriert ist. Seine Eigenschaften konstituierten prinzipiell ein harmonisches Ganzes; sie standen im Verhältnis eines wohlabgewogenen Gleichgewichts zueinander. Sofern es sich um gegensätzliche Tendenzen handelte, hielten sich diese wechselseitig in Schach: Geist und Leib, Vernunft und Trieb, Leidenschaften und Interessen, Egoismus und Gemeinwohlorientierung. Das bürgerliche Individuum bildete einen geschlossenen moralischen Mikrokosmos, auf dessen Pflege und Ausbau im Sinne von Selbstdisziplinierung, Entfaltung von Tugend, Bildung und Kultur die liberale Persönlichkeit höchsten Wert legte. Es hegte moralphilosophische Debatten und neigte zur Selbstreflexion, die zuweilen selbstquälerischen Charakter annehmen konnte. Von daher erklärt sich auch seine Gespanntheit, die vielfach als pathologische Verspanntheit, Verdrehtheit oder Zwanghaftigkeit erschien. Das bürgerlich-liberale Individuum war von einer Welt der Arbeit geprägt. Im Prinzip konnte ihm alles zur Arbeit werden, vor allen Dingen aber die Arbeit an sich selbst. Denken war Arbeit, Reden und sozialer Umgang waren Arbeit, Beschäftigung mit 'Kultur' war Arbeit, selbst Liebe, Trauer oder Tod hatten Arbeitscharakter. Der Bürger war, wie das bürgerliche Zeitalter insgeheim wußte, in seinem Kern Arbeiter, und diese permanente Anstrengung sah man ihm auch an. Es lag im Programm seiner Person eine geheime Korrespondenz zum Makrokosmos der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft, die analog strukturiert war. Das dionysische Individuum dagegen bildet ein diffuses Bündel von Eigenschaften, Wünschen, Träumen, Trieben und Visionen. Es ist aus Merkmals-Atomen kombiniert, die sich nicht mehr zu einer kohärenten ‚Persönlichkeit’ zusammenschließen, sondern bereit sind, sich auf jede Schwingung einzulassen, die auf sie einwirkt. Sofern von einem Identitätskern die Rede sein kann, handelt es sich um einen Knotenpunkt sich überschneidender Kräftefelder. Es partizipiert vielfach an Verdichtungen, die hinsichtlich eines Massencharakters kompakter sind als hinsichtlich der Einheit einer Person. Die Muster, die in ihm gebildet werden, sind isomorph zu denen des Systems, in welches es hineinschwingt und wogegen es seine rebellische Haltung entfaltet. Es handelt sich um Muster, wie sie der Wind in Dünen einzeichnet. Sie sind ähnlich variabel, komplex, zwingend ungreifbar und unkontrollierbar. Daher bedarf es auch keiner Bildungsanstrengung im Sinne der Modellierung einer moralischen Identität mehr – es genügt, sich dem Rauschen zu öffnen, welches Zugang zu den es durchziehenden Kräftefeldern gewährt. Von daher erklärt sich die sozialisierende Macht und Prägegewalt von bewegten Bildern und Musik, im Gegensatz zu den klassischen reflexiven Texten der bürgerlichen Kultur, in deren mühsamer Lektüre-Arbeit erst ein Ordnungszusammenhang konstruiert werden mußte.

Der liberale Typus setzte, in Anknüpfung an die ältere christlich-aristotelische Anthropologie, darauf, daß die Triebe von der Vernunft gezügelt werden mußten. Der Mensch war vor allem als Vernunftwesen gedacht, das heißt, die Vernunft sollte Herr im Hause sein und den Trieben den ihnen gebührenden untergeordneten, dienenden Platz zuweisen. Das Programm der Vernunftherrschaft galt an erster Stelle für das Individuum selbst, welches seine innere Ordnung gezielt und bewußt herstellen und aufrechterhalten sollte. Die älteren Konzepte einer Ethik, die das Handeln durch Maximen leiten wollte, die Rede von Schuld und Verantwortung, die das Subjekt als ein dauerhaft geordnetes Zweck-Mittel-System ansieht, beruhen alle- samt auf dieser Voraussetzung. Das dionysische Individuum kennt dagegen keine innere hierarchische Ordnung mehr; Ordnung kann ihm kaum etwas anderes sein als eine vorübergehende, lästige oder bestenfalls interessante Kombination fließender Elemente. Es bezweifelt prinzipiell, ob irgend etwas herrschen soll oder auch nur kann, und sei es die Vernunft selbst. Die Triebe gelten ihm nicht als einzudämmende bösartige Kräfte, mit deren Hilfe Chaos und Tod in das Subjekt hineinwandern, sondern als Agenturen lustvoller Entfesselung. Sie sind der Vernunft zumindest gleichzustellen, vielfach in der Erwartung, es sei mit ihrer Hilfe eine Intensivierung von Erfahrungen möglich. Wenn die Dämme brechen – desto besser, denn nur in der Selbstzerstörung seiner Objekte kann das Leben seine Urgewalten zurückgewinnen. Die aus kulturkritischer Perspektive vielfach beklagte Infantilisierung, welche die systemische Massenkultur hervorbringt, hat mit der hohen Attraktivität des dionysischen Musters zu tun: Die schiere Unendlichkeit der Forderungen, die das dionysische Individuum stellt, erinnert an den kindlichen Trotz, an die folgenlosen Wutanfälle angesichts der Verweigerung und an das stille Vertrauen, daß eine allmächtige Mutter die Sache schon in Ordnung bringen wird."

(Rolf Peter Sieferle, "Epochenwechsel", Berlin 1994, S. 161ff.)


Lieber Helmut, du bist ein bürgerliches Individuum, die deiner Welt herrscht Kausalität und du trägst Verantwortung. Ihre Welt ist anders.


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